Ideenwettbewerb Karstadt Celle – Jury kürt Sieger
21. Juni 2024
Gemüseanbau, Datenspeicher, offener Vollzug– für all das könnte das ehemalige Karstadthaus in Celle einmal nachgenutzt werden. Diese und andere Vorschläge gingen bei dem interdisziplinären Ideenwettbewerb ein, zu dem der Werkbund Nord zusammen mit dem Bund Deutscher Baumeister und dem Bund Deutscher Innenarchitektinnen und Innenarchitekten aufgerufen hatte. Eine unabhängige Jury kürte jetzt die Siegerentwürfe, die noch bis zum 2. Juli in der Celler Altstadt ausgestellt werden.
„Wir staunen alle, wie groß das Interesse ist am Erhalt der Innenstädte ist und welche grandiosen Ideen Gestalter:innen im Verbund mit unterschiedlichsten Disziplinen entwickelt haben“, so Architekt Malte Wulf vom Werkbund Nord. „Die internationale Resonanz mit 204 interessierten Teams hat uns vor Augen geführt, dass wir neue gemeinschaftliche Strategien entwickeln müssen, um Lösungen für den Umgang mit leerstehenden Gebäuden und für eine Innenstadt der Zukunft zu finden“, beschreibt Architektin Susanne Witt das Ergebnis. „Die brisante Lage der Innenstädte können wir nur im Verbund und durch eine Diskussion mit der Stadtbevölkerung angehen“, meint Innenarchitektin Annika Wagener.
Und das sind die ausgewählten Entwürfe:
Platz 1: RaumWerkCelle
Eingereicht von:
Moritz Hoffart, Sebastian Uellner, Leonie Wolf mit Prof. Dipl.-Ing. Architektin Cilia Tovar, Architektur, Entwerfen und integrales Bauen, Prof. Dipl.-Ing. Architekt Maik Neumann, Nachhaltiges Bauen, DGNB-Auditor, Dipl.-Ing (FH), M. Eng, Christian Hillgärtner, Technische Gebäudeausrüstung, Dipl.-Ing. Architekt Wolfgang Döring, Bauphysik, Prof. Thomas Vinson, Plastisches Gestalten und Freies Zeichnen, alle Technische Hochschule Mittelhessen, Gießen
Beschreibung des Projektentwurfs:
„Ziel ist es, eine langfristig tragfähige und vielseitige Lösung zu finden, die nicht nur den aktuellen Anforderungen gerecht wird, sondern auch zukünftige Entwicklungen berücksichtigen kann. Ein starres Konzept könnte schon bald überholt sein, daher ist Anpassungsfähigkeit entscheidend. (…) Es ist uns wichtig, eine Lösung zu entwickeln, die flexibel genug ist, um auf neue Herausforderungen und Marktbedingungen reagieren zu können. Dies bedeutet, dass die Nutzungsmöglichkeiten des Gebäudes nicht von vornherein festgelegt, sondern variabel und erweiterbar gestaltet werden sollten.
Im Erdgeschoss sind verschiedene Nutzungen möglich, von Cafés bis hin zu Buchläden oder Ärztezentren, je nach den aktuellen Bedürfnissen der Stadt Celle. Dabei können Einheiten mit einer Größe von 60m² bis zu 450m² realisiert werden. Ein direkter Anschluss an die Markthalle gewährleistet ein lebendiges Treiben und fördert die Attraktivität des Standorts. Zusätzlich sind die Nebenzonen der Räume anpassbar und können je nach Bedarf zurückgebaut werden, um eine optimale Nutzung zu ermöglichen.“
Urteil der Jury:
„Das gesamte Projekt ist in Entwurf und Programm von einer beeindruckenden Klarheit und Angemessenheit geprägt. Dies gilt auch für den Umgang mit der prägnanten Fassade. In Struktur und Gliederung bleibt sie erhalten. Lediglich die quadratischen Ausfachungen werden durch Öffnungsflügel mit feingliedrigen Lamellen ersetzt. Damit bleibt der Charakter des Hauses erhalten, wird jedoch in Maßstäblichkeit und Transparenz so verändert, dass dem Haus die Monumentalität entzogen wird: eine gelungene Vermittlung zur Fachwerkstadt Celle ohne Anbiederung an Typologie und Materialität der benachbarten Fachwerkhäuser. So erhält das ehemalige Kaufhaus eine neue Identität, ohne seine Herkunft zu leugnen.“
Platz 2: 700 Thesen/Haus der Demokratie
Eingereicht von:
Architekt Felix Gehrke, Berlin und Pascal Kapitza, Bildender Künstler, Braunschweig
Beschreibung des Projekts:
„Das Haus der Demokratie soll einen identitätsstiftenden Gemeinschaftsraum im Herzen von Celle bilden, der den Mitgestaltungswillen der Bewohnenden fordert und fördert und sich als Startpunkt einer partizipierenden Stadtgestaltung verstehen möchte. Als Baustelle am Bau der Demokratie setzt es mahnend und doch voller Motivation für kollektiven Tatendran ein Zeichen. (…)
Die Idee für unseren Umgang mit dem Bestand ist der Ergänzen des Rohbaus um eine neue Hülle. Wie ein Gewand legt sich eine leichte Holzstruktur mit ihren textilen Elementen um das ursprüngliche Betonskelett und verleiht ihm eine neue Identität. (…)
Das Gebäude gliedert sich in vier Ebenen. Das Untergeschoss gibt genug Raum für die Lagerung benötigter Ressourcen. Das Erdgeschoss bildet das städtische Foyer und Foyer des Hauses, während das erste und zweite Obergeschoss die Ausstellung beherbergen und schließlich das dritte Obergeschoss Raum für Diskussionsformate gibt.“
Urteil der Jury:
„Die Arbeit ‚700 Thesen. Haus der Demokratie‘ schafft einen temporären, identitätsstiftenden Gemeinschaftsraum im Zentrum der Stadt, der dialogisch mit ihr in Beziehung tritt. Indem die Verfasser die bisherige Fassade als Medium zur Kommunikation nutzen, regen sie die Bürger an, selbst als Teil des Entwurfsprozesses partizipativ zu agieren. Der Entwurf greift das bestehende Konzept (die Gestaltung vereinzelt angeordneter Fassadenplatten) auf und führt den Gedanken der Fassade als Ort weiter aus. Durch Verteilen der über 700 Platten geben sie den Bewohnern die Möglichkeit der Teilhabe, sich mit einem Votum bzw. durch eigene visuelle Beiträge darauf an der Diskussion zu beteiligen und somit aktiv in den demokratischen Prozess einzutreten. Die jeweiligen gestalterischen Artikulationen werden anschließend versammelt und öffentlich sichtbar, indem alle Tafeln wieder zurück an ihren ursprünglichen Ort als Ausstellung ‚700 Thesen für ein die Gemeinschaft prägendes Stadtzentrum‘ gezeigt werden. Das temporäre Kunstprojekt zeichnet somit aus, das Moment der Unterbrechung auf verschiedene Weise ästhetisch erfahrbar zu machen.
Positiv wird auch die funktionale Gliederung des Baukörpers beurteilt: die Verbindung der öffentlichen Straßenräume durch das offene Erdgeschoss als Foyer des Hauses wird honoriert; in den darüberliegenden Geschossen wird den „700 Thesen“ Celler Bürgern Raum gegeben; anschließend regt der oberste Raum mit Blick über Celle zum öffentlichen Diskurs an.“
Platz 3: Transformation Zelle/Celle
Eingereicht von:
stadtfreund:innen: Wiebke Mühlhoff und Juliane Dieckmann, beide Innenarchitektur M.A. mit Mona Ebelt, Stadtplanung M.A., alle Köln
Beschreibung:
„Das Konzept für das ehemalige Karstadtgebäude setzt sich mit zwei gesellschaftlichen Problemen (Leerstand von ehemaligen Kaufhäusern und Überfüllung der niedersächsischen Strafvollzugsanstalten) auseinander und löst diese durch räumliche Verschränkung.
Das leerstehende Gebäude in der Celler Innenstadt wird durch publikumswirksame Orte in der Erdgeschosszone und in den Obergeschossen wiederbelebt und bietet zusätzlich straffällig gewordenen Jugendlichen einen neuen Lebensraum. So wird der Überfüllung in der JVA Celle durch die Etablierung der Wohngruppen im ehemaligen Karstadt entgegengewirkt. Der Entwurfsgedanke wird durch drei Leitbegriffe Interaktion, Integration und Inspiration beschrieben, die in den einzelnen Funktionen und im Gesamtkonzept des Gebäudes wiederzufinden sind.“
Urteil der Jury:
„Voll statt leer soll es werden, Vollzug statt Leerstand eben. In der Mitte von Celle, in einer Transformationszelle, wollen die Verfasserinnen ein Wohngruppenkonzept für den offenen Justizvollzug mit Arbeitsplätzen, Bewegungsmöglichkeiten und als Treffpunkt platzieren.
Sie lösen damit zwei erhebliche gesellschaftliche Probleme: mit ihrem Konzept könnte der Überfüllung niedersächsischer Strafvollzuganstalten entlastend begegnet werden und die leer stehende ehem. Karstadt-Filiale würde wieder mit Leben gefüllt.
Die Jury überzeugte dieser konzeptionelle Leitgedanke, dem ein hoher Innovationsgrad innewohnt und der das Potenzial hat, bundesweit ein Zeichen für eine offene Gesellschaft, für Integration und Diversität zu setzen. Das Konzept ist wie ein Möglichkeitsraum, der einlädt, dem Leerstand in den Innenstädten wirklich neu zu begegnen. Der eine besondere regionale Bindung sympathisch stärkt und auch den offenen Justizvollzug zu neuem Denken und Innovation auffordert.“
Anerkennung 1: Vorratskammer
Eingereicht von:
AG zilpzalp, Sarah Pens, M.Sc. Architektur und Städtebau mit Jan Hüttmann, Annika Marie Gilles und Inga Jensen
Beschreibung des Projekts:
„Im ehemaligen Karstadtgebäude soll eine Stadtfarm entstehen. Dort werden Lebensmittel produziert, verarbeitet und verkauft. Kurze Transportwege werden durch innerstädtische Produktion gewährleistet. Ein Innenhof bringt Sonnenlicht in das Gebäude. Der Erhalt der Tragstruktur ermöglicht zukünftige Flexibilität.“
Urteil der Jury:
„Die umgreifende Glasfassade legt den Eindruck eines Gewächshauses nahe. Lediglich das Dach wird mittig geöffnet für einen Innenhof mit natürlichem Lichteinfall. Dieser ist mit der Stadt durchgängig vernetzt und schafft einen begrünten, öffentlichen Raum von überschaubarer Dimension. Eine neuartige Attraktivität in dem ansonsten historischen Stadtgefüge.
Ernährung ist ein aktuelles Thema unserer Zeit und betrifft alle Gesellschaftsschichten. Auf diese Weise wird der Kaufhausgedanke als Vorratskammer für die Gemeinschaft fortgesetzt und in ein intelligentes, nachhaltiges Konzept überführt. Hier wird gleichzeitig produziert, verkauft und verzehrt und ist ein Bildungsangebot an die Stadtgesellschaft, ein wahrhaft ganzheitlicher Gedanke.
Die unterschiedlichen Lichtverhältnisse (von direktem bis diffusen Lichteinfall) ermöglichen unterschiedliche Produktionsbedingungen für Urban Farming, die hier konzeptionell ausgelotet wurden und eine nahezuganzjährige Produktion versprechen. Das entleerte Raumvolumen des großen Gebäudekomplexes unterstützt die Konsequenz dieser Idee in ihrer Machbarkeit und kann als Vorbild für vergleichbare Leerstände dienen.“
Anerkennung 2: Das Speicher | Waren | Haus
Eingereicht von:
Katharina Neubauer, Architektin, TOMAS-Transformation of Material and Space, Aarau und Julia Laekamp, Tourismusmanagerin, Essen
Beschreibung des Projekts:
„Mit unserem Vorschlag setzen wir ein deutliches, ökologisches und soziales Zeichen gegen die unnachhaltige Flächenversiegelung und zeigen, wie Innenstädte ihre Funktion als Treffpunkt, Raum für Begegnungen, Austausch und Informationsquelle erfüllen können.
Wir erhalten die Bausubstanz zu 100 %. Die Geschossdecken des ehemaligen Warenhauses sind statisch für extrem hohe Lasten ausgelegt. Sich hier auf Wohnungsbau zu beschränken, der deutlich geringere Traglasten benötigt, erkennen wir als unausgeschöpftes Potenzial und schlagen daher ein Datenzentrum vor. Auf eine Fläche von 3.585 Quadratmetern könnten 1728 Server vorgesehen werden. Server benötigen kein Tageslicht, weshalb die Fassade unberührt werden kann. Die erzeigte Abwärme versorgt ca. 250 Haushalte im Jahr.“
Urteil der Jury:
„Die Arbeit ‚Das Speicher | Waren | Haus‘ beeindruckt durch eine gelungene Symbiose aus (bau-)technischer, stadtgesellschaftlicher und ökologischer Innovation und Nachhaltigkeit.
Es wurde ein Konzept entwickelt, das die bestehende Gebäudestruktur vollständig erhalten kann und diese geschickt für moderne Anforderungen adaptiert. Dabei werden die Stärken und Schwächen des Gebäudes optimal ausgenutzt: lichtarme, aber tragfähige Innenräume als Datenzentren zu nutzen, ist ökologisch sinnvoll. Der vollständige Erhalt der Bausubstanz ist bereits in der Phase der Umnutzung äußerst ressourcenschonend. Die innerstädtische Lage ermöglicht darüber hinaus eine Verwendung der Abwärme in unmittelbarer Umgebung und kann ein Baustein in der kommunalen Wärmeplanung der Stadt Celle sowie ein exemplarisches Modell für Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft sein.
Die Umwandlung des ehemaligen Karstadt-Gebäudes in ein Datenzentrum ist aber nicht nur eine technische Lösung, sondern ein starkes Statement über die Veränderungen unserer Zeit. Die Verfasser reflektieren damit die Verschiebung des Konsumverhaltens und die zunehmende Digitalisierung, die unsere Gesellschaft durchdringt. Die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes als Warenhaus, ein Symbol des Wirtschaftswunders, weicht nun einem Datenzentrum, das die Infrastruktur für die digitale Wirtschaft bereitstellt. Diese Transformation wird zum Kommentar auf den digitalen Wandel, der traditionelle Geschäftsmodelle und städtische Strukturen grundlegend verändert. Das Projekt lädt dazu ein, über die Vor-und Nachteile dieser Entwicklung nachzudenken und eröffnet einen Diskurs über die Zukunft der Städte in einer digitalisierten Welt.“
Mitglieder der Jury
Stimmberechtigte Fachpreisrichter*innen der Jury:
- Prof. Bettina Georg, Architektin
- Prof. Jan Krause, Architektur Media Management
- Prof. Anja Rosen, Architektin
- Julia Schneider, Innenarchitektin
- Prof. Christiane Sörensen, Landschaftsarchitektin
- Prof. Gunnar Spellmeyer, Industriedesigner
- Prof. Dr. Bärbel Schlüter, Uni Osnabrück
- Claus Becker, Geschäftsführer Schlosstheater Celle
Den Vorsitz hatte Prof. Dr. Anja Rosen.
Unter dem Label Gemeinschaftswerk-Werkgemeinschaft haben sich die drei Partnerverbände Werkbund Nord, Bund Deutscher Baumeister und der Bund Deutscher Innenarchitektinnen und Innenarchitekten zusammengefunden. Gemeinschaftliches, kulturelles, soziales, ökonomisches und nachhaltiges Handeln bestimmt das Credo dieses Zusammenschlusses und der gemeinschaftlichen Auslobung eines Preises, der zukünftig in einem zweijährigen Turnus ausgelobt wird und sich an interdisziplinäre Teams aus gestalterischen Berufen und Studiengängen richtet.
Alle eingegangenen Entwürfe werden noch bis zum 2. Juli in der Altstadt von Celle, Rundestraße 13/14 ausgestellt.
Öffnungszeiten: Mo bis Fr 13-16 Uhr, Sa 10 -16 Uhr.
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