Umweltbewusst heizen mit kalter Nahwärme
7. Juni 2024
Mit Hilfe von kalten Nahwärmenetzen lassen sich innovative Energiequellen umweltverträglich nutzen: Sie sorgen dafür, dass die im Sommer durch Kühlgeräte gesammelte Wärme die Außenluft nicht weiter aufheizt wird. Stattdessen wird die Wärme in Erdspeichern gesammelt und zu einem späteren Zeitpunkt verwendet. Prof. Dr. Andrea Pelzeter von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) erklärt das Prinzip im Interview.
Prof. Pelzeter, durch die Energiewende werden Menschen zu Prosumern – könnten Sie das bitte kurz erläutern?
Wenn Menschen auf ihrem Balkon eine Photovoltaik-Anlage aufstellen und den so produzierten Strom teils selber verbrauchen und teils in das Stromnetz einspeisen, dann sind sie sowohl Konsumenten als auch Produzenten von Strom. In unserem Falle geht es dann um Abwärme, die im Rahmen von Kühlungsmaßnahmen „produziert“ wird und die als Quelle für die Erwärmung von Heizungswasser genutzt werden kann.
Kalte Nahwärme – klingt paradox. Was ist das?
Ein lokales Netzwerk, zum Beispiel eine Ringleitung in der Erde, verbindet Wärmequellen, möglicherweise ein zu kühlendes Serverzentrum, mit Wärmesenken, das heißt, mit einer Heizung oder auch mit einem saisonalen Wärmespeicher, der diese „Abfallwärme“ für die nächste Heizungssaison aufbewahrt. Das Wasser in diesem Netzwerk hat ca. 10 bis 20 Grad Celsius, was schön kalt ist für die Kühlung und im Winter eine relativ warme Quelle für Wärmepumpen darstellt, die die Temperatur dann noch auf 30 Grad anheben, damit Flächenheizkörper den Raum heizen können. Das ist effizienter, als im Winter die Umgebungsluft (mit vielleicht 0 Grad Celsius) als Wärmequelle für eine Luftwärmepumpe zu nutzen.
Wie kann kalte Nahwärme die Lebensqualität in der Stadt an Hitzetagen verbessern?
Das kalte Nahwärmenetz sorgt dafür, dass die im Sommer durch Kühlgeräte gesammelte Wärme nicht die Außenluft weiter aufheizt, wie das bei den Klima-Split-Geräten der Fall wäre, die man in manchen Fenstern beobachten kann. Stattdessen wird die Wärme in Erdspeichern gesammelt und zu einem späteren Zeitpunkt genutzt.
Inwiefern könnte die Umstellung dazu beitragen, CO2-Eimissionen zu reduzieren?
Einerseits kann die zur Kühlung aufgewendete Energie um circa zwei Drittel reduziert werden. Andererseits muss die aus der Abwärme „gerettete“ Energie nicht erneut in Kraftwerken erzeugt werden – was nach heutigem Stand noch immer mit der Verbrennung von Kohle oder Gas verbunden ist. In unserem Beispiel könnten so ca. 450 Tonnen Kohlendioxid jedes Jahr für die Kühlung und Heizung der Hochschulgebäude am Campus Lichtenberg eingespart werden.
Wie wird das Ganze abgerechnet, wenn Prosumer nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren?
Das ist die Frage, die wir klären möchten. Erhalte ich einen Bonus für meine Abwärme in der jährlichen Heizungsabrechnung oder wird durch das kalte Nahwärmenetz lediglich meine Kühlung je Kilowattstunde deutlich billiger? Wie hoch muss der wirtschaftliche Vorteil sein, damit ich die Umrüstung an meinen Anlagen vornehmen lasse? Wie teuer ist es, das kalte Nahwärmenetz mit Backups abzusichern, damit die gewünschte Temperatur auch dann erreicht wird, wenn zu wenig oder zu viel Abwärme zirkuliert?
Aktuell bewirbt sich die HWR Berlin in der vom Land Berlin geförderten Konzeptionsphase eines so genannten Reallabors: Das Projekt „KWArtier – Kalte Nahwärmenetze für die Autarkie im Quartier mit multiplen Erzeugern“ gehört zu zehn Konzepten, die im Rahmen des Berliner Programms zur Förderung von wirtschaftsorientierten Reallaboren aus über 50 Bewerbungen ausgewählt wurden. Derzeit läuft die sechsmonatige Konzeptphase. Drei der Finalisten erhalten den Zuschlag für ein Reallabor mit einer maximalen Laufzeit von bis zu drei Jahren und drei Millionen Euro Förderung. Warum eignet sich der Campus Lichtenberg der HWR Berlin so gut als Standort für ein Reallabor?
Der Campus Lichtenberg eignet sich zum einen technisch, weil es dort Kühl- und Heizbedarf in nennenswerter Menge gibt. Zudem finden wir hier die typische, herausfordernde Zusammenstellung von Stakeholdern vor: Eigentümer, Nutzer und Betreiber der Gebäude sind unterschiedliche Unternehmen beziehungsweise Institutionen mit spezifischer Interessenslage. Eine dort entwickelte, prototypische Lösung wird dann sehr gut auf andere Quartiere übertragbar sein.
Was macht so ein Reallabor aus?
Ein Reallabor lebt davon, dass man sich regelmäßig den tatsächlichen Stand der Dinge ansehen kann: Wo wäre das besser der Fall, als an einem Ort, an dem die beteiligten Personen lehren und forschen? Schließlich sollen möglichst viele Menschen von dem Reallabor profitieren: zu den im Projekt mitwirkenden Firmen und vergleichbaren Immobilieneigentümern und -nutzern kommen hier noch die Studierenden der HWR Berlin hinzu. Studierende des dualen Studiengangs Technisches Facility Management könnten am Beispiel des kalten Nahwärmenetzes auch im Rahmen ihrer Studienprojekte Berechnungen vornehmen und das Konzept bei ihren Arbeitgebern wie Krankenhäusern, Wohnungsunternehmen oder der Berliner Verwaltung bekannt machen.
Sehen Sie Potenzial, dass solch ein Projekt über den Campus hinaus ausstrahlt?
Das ist in jedem Falle der Zweck eines Reallabors. Im Idealfall steht am Ende des Projektes ein Baukastenmodell für die modulare Entwicklung von kalten Nahwärmenetzen in städtischen Quartieren. Die beteiligten Unternehmen können auf dieser Basis Beratungsleistungen anbieten beziehungsweise Contracting-Angebote erstellen und auf das umgesetzte Beispiel als Referenz verweisen.
Welche konkreten wirtschaftlichen Vorteile könnten sich für die Hochschule und andere Beteiligte ergeben?
Alle können Geld sparen: Die HWR Berlin und gegebenenfalls die weiteren Behörden auf dem Campus würden weniger Kosten für Heizung und Kühlung aufwenden. Die BIM Berliner Immobilienmanagement GmbH als Eigentümerin des Quartiers hätte einen Wertzuwachs durch die im Reallabor installierten Geräte und kann mit den eingesparten CO2-Emissionen auf dem Gelände ihre Verpflichtungen gegenüber dem Berliner Senat erfüllen. Beteiligte kleine und mittlere Unternehmen (KMU) haben Referenzen für zukunftsgerichtete Geschäftsmodelle erlangt und können so mehr Umsatz generieren.
Wie können die Einsparungen anderweitig genutzt werden?
Mit dem eingesparten Geld können andere Maßnahmen zur Umsetzung von Nachhaltigkeit am Campus Lichtenberg finanziert werden, beispielsweise für den Artenschutz.
Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der HWR Berlin.
Zur Person
Architektin Prof. Dr. Andrea Pelzeter ist Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Facility Management an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin). Die Expertin für Lebenszykluskosten von Immobilien und Carbon Footprint von Dienstleistungen forscht intensiv und angewandt unter anderem zu Nachhaltigkeit im Facility Management, Corporate Social Responsibility (CSR) und Geschäftsmodellen als auch zu Abrechnungskonzepten für kalte Nahwärmenetze.
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) ist eine fachlich breit aufgestellte, international ausgerichtete Hochschule für angewandte Wissenschaften, einer der bundesweit größten staatlichen Anbieter für das duale Studium und im akademischen Weiterbildungsbereich. Sie sichert den Fachkräftebedarf in der Hauptstadtregion und darüber hinaus. Rund 12 500 Studierende sind in über 60 Studiengängen der Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts-, Ingenieur- und Polizei- und Sicherheitswissenschaften sowie in internationalen Master- und MBA-Studiengängen eingeschrieben. Die HWR Berlin ist die viertgrößte Hochschule für den öffentlichen Dienst in Deutschland und mehrfach prämierte Gründungshochschule. Über 700 Kooperationen mit Partnern in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst garantieren den ausgeprägten Praxisbezug in Lehre und Forschung. 195 aktive Partnerschaften mit Universitäten auf allen Kontinenten fördern einen regen Studierendenaustausch und die internationale Forschungszusammenarbeit. Die HWR Berlin ist Mitglied im Hochschulverbund „UAS7 – Alliance for Excellence“ und unterstützt die Initiative der Hochschulrektorenkonferenz „Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremdenfeindlichkeit“.
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